Eine Erkundung Balis jenseits von Terror und Tourismusflaute

Von Gunther Neumann

Augenpaare leuchten im spätnachmittäglichen Halbdunkel des Balés, einer luftigen Pavillonhalle unter Palmen. Anmutig gleitet ein Dutzend Mädchen, fast schwebend, über den glatten Boden. Die Bewegungen der Tänzerinnen sind auf ein Minimum reduziert. Alles ist auf die Augen fokussiert. Augen: Ausdruck von Reserviertheit, Kontakt, Heiterkeit, Schalk, Trauer, Angst, Liebe - Leben in all seinen Schattierungen. Tradition und Kultur Balis mögen keine offene Zurschaustellung unkontrollierter Emotionen. Augen-Blicke spiegeln das Leben wider, die Sicht ihrer Welt, eines Weltkulturerbes.

Nach den blutigen Anschlägen vom Vorjahr ist Balis Tourismus massiv eingebrochen. Auch die heimische AUA hat ihre Direktflüge kurzfristig eingestellt. Und dazu kam zuletzt noch die südostasiatische SARS-Panik. Hotels sind oft nur zu 10 Prozent ausgelastet. Tausende meist junger Balinesen haben ihren Arbeitsplatz verloren und stehen vor dem materiellen Nichts. Eine ideale Zeit, um nicht nur die verwaisten Strände, sondern auch die einzigartige Landschaft und Kultur der Insel in vollen Zügen zu genießen. Und zu erleben, dass ein isolierter Terrorakt keine intakte Gesellschaft zerstören kann.

Pflege der Tradition

Der unausweichliche Untergang der einzigartig reichen Tradition Balis wurde schon vielfach prophezeit. Sie könne in einer globalisierten Konsumwelt kaum überleben, dem Ansturm des Massentourismus nicht standhalten. Längst sei Balis alte Kultur tot. Was bleibt - ein von Indonesiens Langzeitdiktator Suharto geschaffener Marionettenstaat für westliche und japanische Devisenbringer. Soweit die Ferndiagnose passionierter Schwarzmaler. Das Eintauchen in das ländliche, friedliche Bali beweist aber rasch das Gegenteil.

Etwa in Peliatan bei Ubud, am Fuße der Inselvulkane. Kaum eine Autostunde von den Urlaubszentren von Sanur und Kuta im Süden der Insel entfernt, fördert hier die "ARMA-Foundation", eine Künstlerinitiative, balinesische Kultur in all ihren faszinierenden Formen. Mehrere Balés, leichte hohe Pavillons im traditionellen balinesischen Stil, errichtet aus lokalen Materialien, zeigen lokale Malerei und öffnen den Zugang zur balinesischen Weltsicht. Ein zentraler, offener Platz bietet Raum für den Auftritt lokaler und internationaler Künstler.

Das lebendigste, vielleicht prägendste, aber sicher eindrücklichste Element der Kulturvermittlung von Generation zu Generation ist der Tanz. Sechs- bis zwölfjährige Jungen und Mädchen lernen im kühlen Halbdunkel eines Balés alte und moderne Tänze - in einer Kombination aus Heiterkeit und Tiefe, Spiel und Disziplin. Die junge, charismatische Lehrerin führt feinfühlig die Hände der Mädchen beim Legong, der früher Prinzessinnen vorbehalten war. Jede Mimik, jeder Augenaufschlag, jede Gestik, jedes Vibrieren der Finger ist ein Symbol, das ebenso alte wie lebendige Aspekte der Kultur vermittelt - und das jeder Balinese vom Kind bis zum Greis versteht. Der Legong folgt einer festgelegten Choreografie. Körperbeherrschung, komplizierte Bewegungsabläufe, ebenso grazile wie bedeutungsvolle Gesten, Ästhetik, Expressivität der Augen und Identität werden ausgedrückt und verinnerlicht.

Dann sind die Burschen dran. Die Mädchen schlagen inzwischen die Metallophone des Gamelang, der alt javanisch-balinesischen Metallophone, oder schlecken Eis, schauen zu und amüsieren sich: Einmal streng, einmal clownhaft und immer sichtlich liebevoll stimuliert führt der Lehrer Jayamertha die Bewegungen seiner Buben. Etwa beim Janger, der Episoden aus dem indischen Heldenepos Maha- barata tänzerisch erzählt. Aus frühen Bildern, in Beobachtung, spielerischer Nachahmung, in Bewegung erforschen und erfahren die balinesischen Jugendilchen ihre Symbole. Mit neuen Tänzen erleben sie den Wandel der Moderne. Feinfühlig-fantasievoll übersetzen die Lehrer der ARMA-Foundation Balis reiche Traditionen für die Zukunft. Eigene Workshops werden parallel für "fremde" Kinder und erwachsene Besucher angeboten, auch wenn balinesischer Tanz bei uns nicht "in" ist, wie es etwa der Bauchtanz vor 15 Jahren war, und wohl auch nie ein Massenphänomen werden wird wie Salsa heutzutage. Was auch gar nicht erstrebenswert sein muss.

Balis blutige Geschichte

Ein Paradies der Götter, wie wir flüchtige Besucher es gerne sehen und wie es vom Tourismusmarketing vermittelt wird, war auch Bali nie - dazu wurde es tatsächlich stilisiert, seit in den dreißiger Jahren erstmals westliche Bohemiens und Schriftsteller vom Zauber Balis und seiner Menschen angezogen wurden. Nicht erst islamistischer Terror im Vorjahr mit 200 Toten brachte Gewalt auf die mehrheitlich hinduistische Insel. 1965/66 etwa starben hier binnen sechs Monaten 100.000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Balinesen mordeten Balinesen: Wer in den Verdacht geraten war, mit dem Kommunismus zu sympathisieren und damit gegen die Gesetze der Götter - der Tradition oder des Feudalismus, je nach ideologischer Sichtweise - zu verstoßen, wurde abgeschlachtet.

Als gewaltsame, exorzistische Reinigung von überfremdenden Einflüssen betrachteten viele Balinesen diese Schlächterei. Kein Balinese spricht heute von jenen blutigen Tagen und dunklen Nächten. Skepsis gegen Ideologien und Schlagworte, verkürzte Weisheiten ist immer angebracht. Gegen die Vergötterer der Insel ebenso wie gegenüber den Pessimisten.

Woher schöpft Bali seine reiche Kultur, was beflügelt die Menschen hier? Nur die Furcht vor den Göttern, bedrohlich präsent in den unberechenbaren Vulkanen der Insel, treibe die Balinesen zu hektischen Opfern, meinen manche westliche Intellektuelle. Tatsächlich schlummern Gefahren in den wolkenverhangenen Vulkanen: Die Götter können toben, immer wieder Flammen, Lava und tausendfachen Tod verbreiten. Doch die Balinesen verdanken den Bergen seit Ewigkeiten auch Fruchtbarkeit und Leben. Steter Regen spült reichen Dünger aus der Asche. Kunstvoll-minutiös gestaltet in der scheinbar unendlichen Abfolge der Reisterrassen, den "Treppen zu den Göttern".

Das Leben als Spannungsbogen zwischen Geburt, Fruchtbarkeit und Tod: Kaum sonstwo auf der Erde liegen das Göttliche, die Schöpferkraft der Titanen und die oft tödliche Bedrohung so nahe beisammen, sind so alltäglich spürbar wie am Fuße der Vulkane: Fluch und Segen, Tod und Wiedergeburt. Der Ausgleich der Gegensätze wird in der balinesischen Kultur nicht als Ziel gesehen, sondern als Ursprung vorausgesetzt. Der Mensch kann dieses Gleichgewicht, die göttliche Ordnung nur durch seine irdischen Sünden und Fehler erschüttern.

Tänzerisches Gleichgewicht

Balis Kunst trägt zum Konfliktausgleich bei: Götter und Dämonen in Stein, Hahnenkämpfe, Malerei, Masken, Musik. Das Schattentheater Wayang Kulit, die altindischen Mythentänze des Ramayana und Mahabarata, das ewige Kräftemessen zwischen Gut und Böse sind unter den drei Millionen Balinesen präsent. Anmut, Verzauberung, Schönheit, Erotik, Verführung, Beschwörung der Götter, Spiritualität, magische Bewahrung bzw. Wiederherstellung des Gleichgewichtes, des kosmischen Ordnungsprinzips - all das manifestiert sich in Balis Tänzen.

Die Kultur der Insel als Geflecht gemeinsam erlebter und gepflegter Werte ist auf kleinstem Raum, zwischen Meer und den Vulkanen, so reichhaltig und differenziert wie kaum sonst wo auf der Welt. Interessierte, einfühlsame Besucher sind bei jedem Fest willkommen. Und die Tourismusflaute ermöglicht es den wenigen Reisenden noch leichter, in den faszinierenden balinesischen Mikrokosmos einzutauchen.

"Bali ist keine Zirkusinsel im Meer des Welttourismus", meint Max Knaus, ein österreichischer Anthropologe, der seit Jahren auf Bali lebt und den "Tourismus und soziokulturellen Wandel in Indonesien" wissenschaftlich beleuchtet hat. Mehr als durch den Massentourismus sieht Knaus Bali durch die Wirtschaftskrise der letzten Jahre bedroht. Die bereits in die Hunderttausende gehende Zuwanderung von anderen Inseln auf das prosperierende Bali provoziert innerindonesische Fremdenfeindlichkeit.

Keine Gesellschaft im Wandel ist gefeit gegen Fehler und Sünden, die wir selbst gemacht haben: Zersiedelung, wilde Mülldeponien, Wasserverschmutzung. Dennoch sieht Knaus die Banyar, Balis traditionelle Nachbarschaftsstruktur, intakt und fähig, mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fertig zu werden.

Gegenseitige Einflüsse

Kein Mensch ist eine Insel. Auch keine Kultur. Bali ist der letzte Rest der alten, indisch beeinflussten javanischen Hochkultur, die sich vor dem expansiven Islam im 16. Jahrhundert auf die kleine Insel flüchtete. Auch dort versteinerte die Kultur nicht in einem isolierten Museumsstaat: Regionale Fürsten konkurrierten in Architektur, Malerei, Musik und Tanz. Sie hatten durch Handel mit Südostasien, später mit Europa, Kontakt zur Außenwelt und entwickelten sich weiter.

"Resistenz" bedeutet für den Völkerkundler Knaus den kulturellen Tod. Die Balinesen leben nach dem Motto: Wir nehmen uns von den Kultureinflüssen, was wir brauchen können, und lehnen den Rest lächelnd ab. Man arrangiert sich mit der Moderne, nimmt sich, was nützlich erscheint, und bleibt mit Stolz bei dem, was heilig ist. Das ermöglicht es, die Identität zu bewahren.

Die Beeinflussung ist freilich nicht einseitig. Balinesische Möbel und profanisiertes Kunsthandwerk erobern die Welt. Die westliche Wertschätzung ihrer Kultur hat die Balinesen immer mehr stimuliert als gehemmt. Sie hat lokale Künstler beflügelt und begabte Maler auch aus Java, Sulawesi und dem Westen nach Bali gebracht.

Die Auswüchse geschickter Massenfertigung fördern zwar in den Dörfern nicht unbedingt die hohen Künste, doch tragen sie, von Intellektuellen geschmäht, zum Masseneinkommen bei - und verhindern damit, dass junge Balinesen weniger als andere Südostasiaten entwurzelt in Großstadtslums verkommen, wo der völlige Verlust kultureller Identität droht. Der auch hier begehrte Kontakt mit der Welt wäre für Balis Jugend ohne Tourismus viel schwerer. Balinesische "Boatpeople" wird es kaum je geben.

Idealisten oder manche Ethnologen würden gerne Balis Kultur und Identität auf ein "goldenes Zeitalter" zurückschrauben - und vergessen dabei, dass dieses, wie überall auf der Welt, nur für eine kleine herrschende Minderheit je ein solches war.

Balis Geist und Seele sind nicht am Strand erspürbar, nicht in einem Tagesausflug zu Massenzielen. Das vordergründig bunte Bali öffnet sich in seiner Vielschichtigkeit in den Morgenzeremonien zu Sonnenaufgang, am Abend in den Bergen, in den Klangteppichen der Gamelangorchester und in der

Magie der Inselnächte. Für jene, die verstehen, sich ebenso interessiert wie behutsam und respektvoll all diesen Erscheinungen zu nähern, gibt es in den kommenden Monaten mit wenigen ausländischen Gästen die beste Gelegenheit dazu.


Gunther Neumann hat längere Zeit als Korrespondent in Südostasien gelebt - und leitet nun die Konferenzdienste und das Protokoll der OSZE in Wien.

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